Dr. Hans-Friedrich Breithaupt spricht mit der Wirtschaft Nordhessen über Impulse der Kunstausstellung documenta für die Wirtschaft und die neue Unternehmensallianz für mehr Klimaschutz. Das Interview führte Andreas Nordlohne.
Neue Nachhaltigkeitsmodelle sind das Leitmotiv der documenta fifteen, der weltweit wichtigsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst. Wie wichtig sind solche Modelle in Zeiten wie diesen für die Wirtschaft?
Orientiert an den globalen, nationalen und regionalen Klimaschutzzielen ist es für Unternehmen und die gesamte Wirtschaft eine Verpflichtung, sich nachhaltig aufzustellen, ohne dass Geschäftsmodelle durch die damit verbundenen, teils tiefgreifenden Veränderungen in Gefahr geraten und die Wirtschaft in Schieflage. Der Wandel muss bezahlbar sein. Zugleich ist jeder Input wichtig, der Unternehmen auf ihrem Weg zur Klimaneutralität konstruktiv anregt. Wir müssen neue Modelle kennen- und leben lernen. Zeitgenössische Kunst reflektiert das, was in der Welt geschieht. Die Wirtschaft ist wie die Kunst vom Weltgeschehen geprägt und wirkt gleichzeitig auf dieses ein.
“documenta ist ein wertvoller Impuls auch für die Wirtschaft”
Um die aktuelle documenta zu verstehen, ist „lumbung“ ein zentraler Begriff. Das indonesische Wort steht für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune und damit für den gemeinsamen Aufbau von Ressourcen. Auf Basis dieses Leitmotivs: Welche Impulse erhoffen Sie sich?
Genauso wie die documenta in die Gesellschaft wirkt, strahlt sie auch in die hiesige Wirtschaft aus. Das eröffnet uns große Chancen, Impulse aufzunehmen und aus diesen zu lernen. Von documenta zu documenta beschäftigt sich die Region mehr mit der Kunstausstellung und ihrer Philosophie: Akzeptanz und Neugierde sind viel größer geworden. Das belegen unter anderem die Kartenverkaufszahlen an die Besucher aus Stadt und Umland. Zugleich geht die documenta viel mehr auf die Region ein – das ist gut für beide Seiten. Der Ansatz der documenta fifteen, den gemeinsamen Austausch zu fördern, hält auch in den Unternehmen und zwischen den Unternehmen Einzug. Ich werte die documenta als wertvollen Impuls, der kreative und nachhaltigkeitsbezogene Denkweisen auch in die hiesige Wirtschaft trägt.
Auch die IHK bearbeitet diese Themenfelder seit einiger Zeit noch intensiver. Ein Baustein ist die neue institutionenübergreifende Unternehmensallianz für mehr Klimaschutz und Nachhaltigkeit, deren Sprecher Sie sind. Wie ist der Start aus Ihrer Sicht verlaufen?
Seit April ist die Allianz #GemeinsamKlimaSchützen aktiv, die die IHK gemeinsam mit der Handwerkskammer und der Vereinigung hessischer Unternehmerverbände (VhU) Nordhessen ins Leben gerufen hat. Wir verstehen uns als unternehmensorientierte Plattform, die dabei hilft, in der regionalen Wirtschaft den Weg zur Klimaneutralität merklich zu beschleunigen. Vor allem die Verbindung von Industrie, Handel und Dienstleistungen mit dem Handwerk bildet einen wirksamen Hebel, um Unternehmen niederschwellig und fundiert praktische Hilfe anzubieten – unabhängig davon, wo sie im Prozess zur Klimaneutralität stehen. Wir brauchen Leuchttürme, wir brauchen Kooperationen und wir brauchen Unternehmen als Macher oder Nachmacher. Wir müssen lernen, viel mehr voneinander zu profitieren, weil es dadurch schneller geht.
Derzeit befinden wir uns in der Anlauf- und Zuhörphase. Wir verzeichnen in der Allianz stetig weitere Mitglieder und freuen uns über jedes neue Unternehmen, das sich einbringen möchte. Unter https://gemeinsamklimaschuetzen.de kann jeder einfach Partner werden. Die Reaktionen sind außerordentlich positiv, wir treffen anscheinend einen Nerv.
Derzeit registrieren wir die Partnerunternehmen und erheben, welche Themen ihnen am meisten unter den Nägeln brennen. Diese Themenfelder decken wir dann kurzfristig mit Angeboten ab. Des Weiteren wollen wir messbar werden. Nur so kann die Wirtschaft zeigen, dass sich hier etwas bewegt. Der Hauptteil unserer Arbeit besteht darin, den Know-how-Transfer zu fördern. Kleine und mittlere Unternehmen haben unsere ersten Veranstaltungen schon gut angenommen.
Im Kontext der documenta veranstaltet die IHK eine Reihe zur „Klimaneutralität bis 2030: Was hindert Unternehmen eigentlich daran?“. Was versprechen Sie sich von diesem Format, das sich am lumbung der documenta orientiert?
Um uns Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu nähern, müssen wir raus aus angestammten Denksilos. Dafür das lumbung-Modell zu nutzen, ist ein Experiment. Bei klassischen Veranstaltungsformaten wissen wir beispielsweise über die Agenda relativ genau, wohin die Reise geht. Nun tauschen wir uns ergebnisoffen mit einer Gruppe von heterogenen Unternehmen aus, wie wir voneinander profitieren können. Dabei denken wir über konkrete und für alle beteiligten Gruppen handhabbare Lösungen nach. Schlussendlich drängt die Zeit, in die Umsetzung zu kommen. Das lumbung kann vielleicht genau das passende Format sein, um tatsächliche oder wahrgenommene Hindernisse zu überwinden und neue Wege zu gehen.
Welche Bedeutung hat die Marke documenta insgesamt für den Wirtschaftsstandort Kassel?
Eine gewaltige, sowohl lokal als auch global. Lokal handelt es sich um den Nachweis, dass die Stadt sich alle fünf Jahre auf ein Mega-Event von Weltrang einlässt, das inzwischen in der breiten Bevölkerung angekommen ist und mitgetragen wird. In der Regel sind die Menschen stolz darauf, dass die documenta in Nordhessen stattfindet und besuchen sie. Die Effekte, die Gäste aus aller Welt durch ihre Ausgaben lokal erzeugen, bedeuten für viele Wirtschaftsbereiche in der Region ein großes Plus. Im internationalen Kundenkontakt stelle ich immer wieder fest, wie weit die Marke in der Welt trägt und ihren Nimbus trotz oder gerade wegen der wechselnden Leitungen behalten hat. Das überrascht mich immer wieder.
Haben Sie ein documenta-Lieblingskunstwerk?
Nein – ganz viele. Fast immer finde ich irgendwo eine Facette, aus der ich lernen kann oder über die ich lange nachdenke. Meiner grundlegenden Lebenseinstellung entspricht der „Man walking to the sky“ aus dem Jahr 1992, der auch im Logo unserer IHK zu sehen ist. Den Rahmenbau von Haus-Rucker-Co aus 1977 finde ich ebenfalls klasse. Genial an der vorherigen documenta 14 war „Shelter“ von Andreas Lolis – das edle Material Marmor im ärmlichen Kontext. Zum Zweimal-Schauen empfiehlt sich der Penone-Baum der documenta 13. Aus beruflicher Sicht beeindrucken mich zwei Werke aus dem Jahr 1977, der „Erdkilometer“ von Walter de Maria und „Laserscape Kassel“ von Horst H. Baumann. Und wenn ich aus meinem Bürofenster blicke, sehe ich das Kunstwerk „7000 Eichen“ von Joseph Beuys, entstanden 1982. Insgesamt bedeutet die documenta für mich Inspiration: Sie bietet für jede und jeden etwas, sofern man bereit ist, sich auf die Kunst einzulassen.
Zur Person
IHK-Vizepräsident Dr. Hans-Friedrich Breithaupt hat sein Abitur am Engelsburg-Gymnasium in Kassel abgelegt. Nach dem Wehrdienst studierte er Betriebswirtschaftslehre an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Promoviert hat der 46-Jährige im Bereich Dienstleistungsmanagement. Nach einer Station als Unternehmensberater im Bereich Strategie und Changemanagement in Köln stieg er 2006 in das Kasseler Familienunternehmen F. W. Breithaupt & Sohn ein, das seit 1762 inhabergeführt in achter Generation hochwertige Präzisionsmessinstrumente für verschiedene Anwendungen sowie individuelle Leistungen und Sonderlösungen in den Bereichen Feinmechanik, Optik, Optronik und Mechatronik fertigt.
Dr. Hans-Friedrich Breithaupt engagiert sich nicht nur im IHK-Ehrenamt in Leitungsfunktionen, sondern auch bei Hessenmetall Nordhessen im Vorstand. Zudem ist er Sprecher der Unternehmensallianz Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Er leitet den Arbeitskreis SchuleWirtschaft und bringt sich unter anderem in der Landesjury „Schüler experimentieren“ ein. Seine Freizeit verbringt Breithaupt mit seiner Familie gern in der Natur beim Wandern, Radfahren oder Laufen.
Das Interview ist in der Juni-Ausgabe des IHK-Magazins Wirtschaft Nordhessen erschienen. Lesen Sie mehr im E-Paper unter epaper.wirtschaftnordhessen.de oder in der kostenlosen App (Google Play und itunes).